Gerhard Ortinau
Am Rande von Irgendetwas
Frühe Gedichte & Texte 1970-1978
34 Seiten, Broschur
hochroth Verlag
Berlin 2010
ISBN: 978-3-942161-07-7
Textproben:
BIOGRAPHIE
am Morgen
hatte er einen Spucknapf
vollWorte gespuckt
da schüttelte der Arzt den Kopf
Sie hätten Dichter werden sollen
sagte er sanft und rückte seinen
weißen Kittel zurecht
—
ODYSSEE
zuerst duckten wir uns nieder
atmeten tief ein
und sprangen aus uns selbst heraus –
was da sprang in diesem Sprung
durfte jahrelang im Regen hocken
bis ihm kleine Flügel wuchsen
dann schickten wir es auf Reisen
und bauten hohe Mauern um das
was da blieb in diesem Sprung
dort richteten wir ein Museum
für erlebte Distanzen ein
in der faden Hoffnung
endlich die Länge des Unendlichen
messen zu können
das andere aber
das wir aus uns hinausgeworfen
wie einen verarmten Untermieter
ist zu einem riesigen niedagewesenen
Vogel herangewachsen
der von Stern zu Stern bummelt
und in besonders dunklen Nächten
uns die Kinder wegstiehlt
—
FAMILY
ich lag neben meiner frau auf der gelben kamelhaardecke die ein hochzeitsgeschenkmeines in australien lebenden onkels ist und schob die patrone in den lauf des karabiners ich legte das gewehr an und zielte auf den kopf des mannes der uns als zielscheibe diente dermannwar aus brauner pappe ich spannte den hahn soweit an bis ich den widerstand spürte und drückte ab meine frau lachte spitz
schau her sagte sie und drückte ihr gewehr an die schulter sie lag auf dem bauch den körper leicht nach links gedreht den linken ellbogen im rechten winkel auf den sandsack gestützt den zeigefinger der rechten hand um den abzugshahn gekrümmt alles an ihr war erwartung und vorschrift